Rückkehr nach Deutschland (1993)

Phantasie, die in den Dschungel aufbricht

Geschichten kürzester Art von Rainer Klis im Chemnitzer Verlag


"Rückkehr nach Deutschland" – was verbirgt sich hinter diesem Titel? Ich muß zugeben, daß mich diese Frage einigermaßen irritierte, als ich das Buch erstmals zu Gesicht bekam. War hier ein publizistischer oder literarisch verschlüsselter Beitrag zu jener aktuellen Debatte zu erwarten, deren Gegenstand man gemeinhin mit dem Schlagwort Vergangenheitsbewältigung bezeichnet? Der Titel legt eine solche Vermutung zumindest nahe, und die Irritation stellte sich deshalb ein, weil den Geschichten Rainer Klis` die aktuell politische Dimension bisher, seit seinem ersten Buch von 1983, völlig abging – dies keineswegs zu ihrem Nachteil; Eigenständigkeit und Qualität seiner Prosa waren eng damit verbunden. Antwort auf diese Frage konnte die Titelgeschichte geben. Ich erkannte jenen Klis wieder, den ich als Autor von „Aufstand der Leser“ und „Hinter großen Männern“ schätzen- und liebengelernt hatte, als einen Dichter, der sich, ohne weltfremd zu werden, seine eigene Welt erschaffen hatte. Da war sie wieder, diese Spannung zwischen einer geradezu behäbigen Seßhaftigkeit, die ihn mit seiner angestammten Heimat um Chemnitz herum verbindet, und einer ausufernden Phantasie, die ständig erneut ins Exotische, am liebsten in den Dschungel aufbricht. Nicht immer äußert sie sich so deutlich wie etwa in der Miniatur „Ruf der Wildnis“, aber als latente Grundspannung ist sie in vielen seiner Geschichten spürbar. Der Titel „Rückkehr nach Deutschland“ meint also keine Aussage „Zur Lage der Nation“, um eine neuere Veröffentlichung Heiner Müllers zu zitieren, sondern – mit ein wenig Augenzwinkern zum Leser hinüber – eben schlicht die Heimkehr von einem träumerischen Ausflug nach Borneo und anderen fernen Gegenden auf den heimatlichen Balkon.
Ausufernde Phantasie – man könnte meinen, sie würde Texte hervorbringen, die sprachlich und formal aus der Fasson zu geraten drohen. Aber gerade das ist nicht der Fall. Aus gutem Grund nennt Klis seine Prosastücke „Geschichten kürzester Art“, und nicht zu Unrecht wird in den Zitaten aus früheren Rezensionen, die man auf der Rückseite des Bändchens findet, auf die für Klis typische Sprachdisziplin und künstlerische Ökonomie hingewiesen. Ein ausgeprägtes Formbewußtsein ist ihm von Anfang an eigen, und das wird Lesern entgegenkommen, die sich mit literarischer Fast-Food-Ware nicht zufrieden geben. Aber beläßt Klis es bei artistischen Etüden? So sehr seine Geschichten ästhetischen Genuß bereiten, man kann und man sollte sie auch auf ihre Botschaft befragen. Diesen etwas pathetisch klingenden Begriff wird mancher hier als deplaziert empfinden, Klis selber wohl zu allererst. Aber es ist doch zu betonen, daß dieser Autor, jenseits aller spielerischen Elemente seiner Prosa, ein sehr nachdenklicher Mensch ist, der etwas zu sagen hat. Ich nehme ein Stück heraus, das wegen seiner Kürze in Gänze zitiert werden kann: Historisches. „Gräbt der Archäologe, kann es sein, daß er eiserne Waffen freilegt, dann Bronzebeile und Keramikscherben. Die Faustkeile findet er uns als letztes. – Grübe er dennoch weiter und fände zuunterst noch Eierbecher, wir müßten ihm seinen Spaten nehmen.“
Für mich ist das ein Text von nahezu klassischem Rang. Er spricht in präziser Knappheit eine nicht weiniger als die Existenz der Menschheft betreffende Warnung aus, dies aber ohne jeden missionarischen Eifer, auf schalkhafte-durchtriebene Weise die anfängliches Schmunzeln in nachhaltige Betroffenheit verwandelt. Der schmale Band ist reich an solchen Stücken, die Klis wohl kaum einer nachmacht.
"Rückkehr nach Deutschland" ist für mich die Wiederbegegnung mit einem Autor, dessen Schaffen ich seit über einem Jahrzehnt verfolge. Ich hatte seinerzeit den 1983 erschienenen Band "Aufstand der Leser“ rezensiert und muß mich nun meinerseits fragen, ob ich diesen Autor damals richtig gesehen habe. Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist, denn auch der Leser verändert sich. Ja, und die altbekannte Tatsache, daß gute Texte im Laufe der Jahre neue Aspekte darbieten, bestätigt sich hier gleichfalls. Ich will nur auf ein Moment eingehen, das ich heute anders sehe. Der Klis'sche Humor, den ich schon damals als ein konstituierendes Element seiner Prosa und seines Weltverhältnisses generell gesehen hatte, kommt mir heute tiefer und auch dunkler grundiert vor. Natürlich hatte ich ihn von jenen billigen Witzeleien abgehoben, an denen es ja nie gefehlt hat, und auch heute würde ich Klis' Prosa Leuten, deren Bedarf mit einer Gaudimax-Show abgedeckt ist, nicht empfehlen. Über Humor ist ebenso viel wie von der Öffentlichkeit unbemerkt philosophiert worden, und hier soll zu diesem Thema nur angemerkt werden, daß zur bevorzugten Lektüre sowohl eines Wilhelm Busch als auch eines Kurt Tucholsky nicht zufällig der Erzpessimist Arthur Schopenhauer gehört hat. Stücke wie "Der Meister" oder "Der Rabe vor dem Haus" liest man heute anders als vor zehn Jahren. Fasziniert von der lakonischen Kürze und den genau gesetzten Pointen solcher Miniaturen, die sie formal dem Witz annähern, hatte ich übersehen, mit welch scharfen Augen Klis menschliche Verletzungen und deformierte Biographien erfaßt hatte. Und auch diese dunklen Töne jenes Prosastücks hatte ich wohl nicht richtig wahrgenommen, das Klis an den Schluß der "Rückkehr nach Deutschland“ setzt. "Keats kannte Edgar nicht“ heißt es und schließt so: "Wenn der Mensch geboren wird, sagte Edgar und schaute in die Ferne, hat er sieben Leben, und wenn man ihn begräbt, ziehen sechs als Duft übers Land. Ein Leben verliert er, und nur es kann Frieden finden. Frag ich dich: Muß das eine Leben nicht grotesk sein?"
Prof. Dr. Friedrich Albrecht in Freie Presse